socialnet, 8. Juni 2012

Prof. Dr. Christine Labonté-Roset rezensiert das Buch „Fremde Heimat Deutschland - Leben zwischen Ankommen und Abschied“ von Murat Ham und Angelika Kubanek.

Thema
Das Thema des Buches „Fremde Heimat Deutschland“ sind die Erfahrungen von Migranten/innen, die sie in Deutschland gemacht haben, häufig in Bezug gesetzt zu denen in ihren Herkunftsländern oder der ihrer Eltern. Bei den porträtierten Personen handelt es sich überwiegend um Frauen und Männer mit türkischem Migrationshintergrund. Hinzu kommen Erfahrungen von Rückkehrern in ihr Herkunftsland und von Transmigranten, also Wanderern zwischen Ländern.
Herausgeber/in
Die beiden Herausgeber verfügen selbst über einen Migrationshintergrund. Murat Ham ist in Braunschweig geboren, seine türkischen Eltern sind einige Jahre zuvor nach Deutschland gekommen. Die Türkei kennt er in erster Linie von Besuchen seiner Großeltern in Istanbul in den Schulferien. Angelika Kubaneks Eltern sind Flüchtlinge aus Schlesien und dem Sudetenland.
Aufbau

Das Buch besteht aus 4 Teilen.
1.    Teil 1 enthält Kurzbiographien sehr erfolgreicher Migranten und Migrantinnen.
2.    Im 2. Teil wird danach gefragt, wie Transmigration – also in und zwischen 2 oder mehr Ländern zu leben – heute konkret aussieht.
3.    Teil 3 besteht aus zwei Interviews mit Migrationsforschern.
4.    Im Teil 4 erzählen „Gastarbeiter“ der ersten Generation von ihrer Rückkehr in die Türkei und ihren Erfahrungen damit, teilweise ergänzt durch Kommentare ihrer meist in Deutschland geborenen Kinder. Dieser Teil ist bereits im Jahr 2000 anlässlich eines Aufenthaltes von Angelika Kubanek als Gastprofessorin an der Universität Edirne entstanden.

Inhalt
Die Kurzbiographien im ersten und zweiten Teil beruhen auf Gesprächen des Herausgebers und der Herausgeberin mit den hier Porträtierten. Im ersten Teil werden 5 sehr bekannte und erfolgreiche Personen mit Migrationshintergrund vorgestellt, wie z.B. die Schriftstellerin Ermine Sevgi Özdamar, die z.T. wie etwa die Managerin Nina Öger oder die Schauspielerin Siir Eloglu von bereits bekannten und erfolgreichen Vätern abstammen. Ich denke, dass die hier vorgenommene Auswahl v.a. unter dem Aspekt getroffen wurde, das in Deutschland immer noch verbreitete Bild von Migranten als un-oder angelernte Arbeiter mit geringer Bildung in Frage zu stellen und zu konterkarieren.

Auch die im 2. Teil porträtierten Transmigranten/innen haben überwiegend studiert oder sind dabei durch Weiterbildung beruflich auf zu steigen. Sie sind allerdings meist die Ersten ihrer Familie, die die Schule erfolgreich abschließen und studieren konnten. Häufig sind sie die Kinder der ersten Migrationsgeneration, einige wie die Designerin Nefis Okan oder der Fährschiffer Olivier haben sich allerdings erst als Erwachsene entschlossen, nach Deutschland auszuwandern.
Was ihnen gemeinsam ist, ist entweder ihr dringender Wunsch (in der Regel) in das Herkunftsland ihrer Eltern auszuwandern, oder sie leben bereits in und zwischen verschiedenen Ländern, sind zur Zeit in Deutschland, halten sich aber die Möglichkeit des Weiterwanderns offen.

Sie sind die modernen Transmigranten, die mehrere Sprachen sprechen, beruflichen Erfolg wollen und haben, die sich dort wohl fühlen, wo sie anerkannt und gleichberechtigt behandelt werden. Wenn sie das Gefühl haben, dies in Deutschland nach wie vor nicht erreichen zu können, wollen sie auch nicht länger bleiben. Wie z.B. die Deutsch-Türkin Derya Ovali, die konstatiert: „In der Türkei bin ich keine Bürgerin zweiter Klasse. Außerdem erhoffe ich mir dort auch eine schnellere Karriere“.(S. 43)

In den Interviews mit ihr wie auch verschiedenen anderen wird deutlich, wie sehr die durch Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ (2010) ausgelöste erneute Debatte über den angeblich mangelnden Integrationswillen muslimischer Migranten die Gefühle, in Deutschland abgelehnt und ausgegrenzt zu werden, verstärkt hat.

Am Beispiel des deutsch-polnischen Forstwirts Krzysztof Jaszczuk wird die Frage gestellt, ob sich die „Wanderhaltung“ der elterlichen Arbeitsmigranten auf die Kinder auswirkt, „so dass sie auch innerlich ruhelos werden?“ (S.64) Sicherlich ist Auswanderung eine durchaus vertraute Möglichkeit, entscheidender scheint mir nach den hier gezeigten Biographien aber der Wunsch nach sozialem Aufstieg zu sein und dass man dahin geht, wo dies eher erreichbar scheint. Häufig hält man sich durch die doppelte Staatsangehörigkeit Rückkehrmöglichkeiten für den Fall des Scheiterns offen.

In den beiden Interviews mit den Migrationsforschern Hartmut Griese und Isabel Sievers von der AG Interpäd, Universität Hannover und Peter Wittmann, Robert Nadler, Thilo Lang von der Forschungsgruppe Rückwanderung, Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig, wird zum einen versucht, die individuellen Aussagen der bisher Porträtierten daraufhin zu überprüfen, ob sie verallgemeinerbar sind, zum anderen sollen die im folgenden 4. Teil wieder gegebenen Berichte von türkischen Remigranten, die bereits im Jahr 2000 erhoben wurden, durch einige aktuellere Ergebnisse ergänzt werden.

Dabei wird deutlich, dass die von den Porträtierten häufig beschriebene Zurücksetzung und Benachteiligung trotz gleichen Bildungserfolgs auf dem deutschen Arbeitsmarkt nach verschiedenen Forschungsergebnissen sehr realistisch ist und dass andererseits die Chancen auf dem türkischen Arbeitsmarkt für aktuelle Rückkehrer als sehr gut eingeschätzt werden.

Auch das im 2. Teil beschriebene Phänomen der Transmigration, bei dem die Bezüge zu Deutschland keineswegs abgeschnitten werden, sondern die Transmigranten „bewegen sich in so genannten transnationalen Sozialräumen, reisen viel zwischen den Ländern hin und her“ (S.76), wird hier als durchaus typisch und weiter zunehmend bestätigt. Mit diesem Phänomen werden auch der überwiegende Blickwinkel der bisherigen Migrationsforschung, der die Migration als ein einmaliges Ereignis mit der Folge anschließender geglückter oder missglückter Integration begreift und der Integrationsbegriff selbst in Frage gestellt.

Was die aktuelle Ergänzung des folgenden 4. Teils angeht, wird diese nur ansatzweise in den Interviews geleistet. Zum einen sind die untersuchten Gruppen zu unterschiedlich, aktuell werden bildungserfolreiche deutsch-türkische Transmigranten beforscht, im Jahr 2000 dagegen Remigranten der ersten Generation, zum anderen befindet sich die Re-Turn-Studie des Leibniz-Institutes noch am Anfang und umfasst sehr unterschiedliche ethnische Gruppen. Konstatiert wird, dass Rückwanderer es im Heimatland oft sehr schwer haben, sowohl weil sich dieses verändert hat als auch weil sie in Deutschland neue Ansprüche entwickelt haben.

Dies bestätigen die Berichte im 4.Teil. Sie sind gekennzeichnet durch ein allgemeines Gefühl der Enttäuschung über ihre Aufnahme und darüber, dass ihre Erfahrungen und Kenntnisse meist ungenutzt blieben (vgl. S.100ff). Die Remigranten sehnen sich fast durchweg nach Deutschland, nach den klaren behördlichen Strukturen, der Infrastruktur und Gesundheitsversorgung. Manche bereuen zurückgekehrt zu sein, „die meisten von ihnen sind dennoch heute zufrieden“ (S.105), schwer war es vor allem für die in Deutschland geborenen Kinder, „die man als `verlorene Jugend` bezeichnete“( S.128).

Diskussion

Das Buch ist trotz der darin enthaltenen Interviews mit den Forschern kein wissenschaftliches, sondern ein feuilletonistisches Werk. Doch gerade dadurch stellt es eine gute Ergänzung der zahlreichen Migrations-Forschungs-Studien dar. Es ergänzt sie „um einen realistischen Blick auf die Herausforderungen unserer Einwanderungsgesellschaft“, wie es Klaus Wowereit in seinem Grußwort zum Buch formuliert (S.9).

So kann diese Buch auf verschiedene Weise und von verschiedenen Gruppen und Personen gelesen und benutzt werden.
Anhand persönlicher Schicksale werden die widersprüchlichen Gefühle der in Deutschland lebenden Migranten/innen und ihrer Nachfahren deutlich, sowie die immer noch bestehende Benachteiligung und Ausgrenzung. Andererseits zeigen die vielen erfolgreichen Biographien, dass man sich trotz dieser Widerstände durchsetzen kann. Eine wichtige Lektüre also für alle, die im Alltag wie Beruf mit Menschen mit Migrationshintergrund zusammen treffen.

Als Ergänzung und auch Korrektur der Migrationsforschung sollte das Buch auch in entsprechenden Seminaren genutzt werden, da dort nicht selten ausgeklammert wird, was die analysierten Fakten für das jeweilige Schicksal bedeuten und künftige Entscheidungen nicht immer nur rational beeinflussen. Wünschenswert wäre eine aktuelle Ergänzung des vierten Teils, auch um zu erfahren, wie es nicht nur den bildungserfolgreichen Remigranten heute, sondern auch denen ergeht, die rückkehren, weil sie im deutschen, sozialer Exklusion Vorschub leistenden Bildungssystem noch immer scheitern.

Das Buch stellt vor allem Menschen mit türkischem Background dar. Auch wenn diese die größte Gruppe in Deutschland ist, wären auch hier ergänzende Daten schön.

Fazit

Ein durchaus notwendiges und sehr lesenswertes Buch, dass die vorhandene Forschung um persönliche Erfahrungen und daraus resultierende Gefühle ergänzt. Vor allem unterstreicht es die notwendige Wende der bisherigen deutschen Migrationsforschung, „die immer noch ein relativ traditionelles Modell von Migration“ hat, das, „mit der Unterstellung verbunden“ ist, „dass es sich in der Regel um einen unidirektionalen Prozess handelt“(S.83), so jedenfalls die Einschätzung der im Buch interviewten Forscher Isabel Sievers und Hartmut Griese. Die Berichte dieses Buches bestätigen die neuere Transmigrationsforschung und beides zusammen sollte das leider in Deutschland immer noch vorherrschende Bild von Menschen mit Migrationshintergrund möglichst entscheidend verändern.

Quelle: socialnet, 8. Juni 2012