M-MEDIA, 18. Juni 2013

Berliner Liebesfluchten – Ein Roman von Murat Ham
Rezension von Elisabeth Ndokwu

In seinem zweiten Roman beschreibt der Journalist Murat Ham die Welt einer wohlhabenden Familie aus der Türkei. Er schreibt über die Reichen und Schönen ein wenig so, wie sie aus dem Blickwinkel der weniger Betuchten erscheinen.

Ein Sesamkringel-Verkäufer bietet Kemal sein süßes Gebäck an, als er auf der Galatabrücke steht und sein Leben Revue passieren lässt. Kein anderer Ort in Istanbul symbolisiert sein Dasein so sehr wie diese Brücke, die das alte und das neue Istanbul verbindet. In seinem zweiten Roman beschreibt der Journalist Murat Ham die Welt einer wohlhabenden Familie aus der Türkei, die in den Medien der westlichen Welt so gut wie nie vorkommt. Der gelernte Politikwissenschafter spannt den Bogen vom Beginn des vorigen Jahrhunderts bis in die Gegenwart.

Die Familie, in die der Protagonist Kemal einen Tag nach dem Tod des legendären Staatsoberhaupts Atatürk im Jahr 1938 geboren wird, pflegt weitläufige Beziehungen und hat die tiefgreifenden Reformen für die Festigung ihrer gesellschaftlichen Stellung genutzt. Das Textilunternehmen floriert und expandiert auch während der Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Unpolitisch sein

Geschäftsbeziehungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland und die Freundschaft zu jüdischen Geschäftspartnern in Istanbul sind für den Vater von Kemal kein Widerspruch. Unpolitisch sein ist das oberste Credo. Als Kemal in den 1960iger Jahren nach Berlin geht, um in Chemie zu promovieren, genießt er seine Freiheiten in vollen Zügen. Für kurze Zeit kehrt er in die Türkei zurück und heiratet seine Jugendliebe Zuhal, eine Modedesignerin. Während die Türkei auf eine Periode der Instabilität zusteuert, beziehen Kemal und Zuhal ein Haus in Wannsee, ihr Sohn Kenan wird geboren. Der anfänglichen Harmonie folgt eine lange und schmerzhafte Zeit der Entfremdung. Der Verzweiflung von Kemal und Zuhal begegnet der Erwachsene Kenan mit der gelernten Frohnatur eines Kindes des Wohlstands.

Die Metropolen New York, Berlin und Istanbul bieten den Mondänen der Welt dieselben Vergnügungen und Annehmlichkeiten. Die Sinnfrage stellt sich an jedem Ort der Welt, niemand entkommt ihr in diesem Buch.

Moralischer Trost für die Armen

Murat Ham schreibt über die Reichen und Schönen ein wenig so, wie sie aus dem Blickwinkel der weniger Betuchten erscheinen. In Ermangelung an Erfahrungen mit Reichtum ist das Klischee einer untrüglichen Verbindung von Geld und privatem Unglück ein moralischer Trost für die Armen. Die Einbettung der Liebesgeschichte eines Jahrhunderts in die politischen Umbrüche und die Veränderungen einer globalisierten Welt lebt von einem realistischen Erzählstil und dem Wissen, dass Integration keine Frage der Herkunft ist, sondern ein fragiles Konstrukt. So ist es kein Zufall, dass Kemal sich am Ende seines Lebens auf der Galatabrücke fragt, wer er ist und nicht, woher er kommt.

Quelle: M-MEDIA, 18. Juni 2013